Aber sollte ein gläubiger Christ nicht seine Zukunft vertrauensvoll in Gottes Hädne legen???
Schon, aber das enthebt den Menschen ja nicht notwendigerweise von der eigenen Handlungsfähigkeit und -notwendigkeit. Als ein "Hände-in-den-Schoß-legen-Prinzip" wollten Sie es sicherlich selber nicht betrachten, oder?
Genau in diesem Dilemma liegt des Trudels Kern begraben. Das Pendel christlicher Attribute oszillierte nicht zufällig schon ganz vom Anfang an zwischen den beiden Polen Glaubensstärke (eher paulinisches Heidenchristentum) und Werkgerechtigkeit (jakobinisches Judenchristentum). Die Frage des Verhältnisses zwischen Beten und Arbeiten (in ihrer ganzheitlichen Betrachtung) ist ja nie gelöst worden - eben weil sie im Grunde unlösbar ist. Das ist bis heute so geblieben. Sekten und Sondergemeinschaften tendieren häufig aus systemischen Gründen eher zu einer Art von werkgerechtigkeitsorientiertem Glauben, der sie denn ja auch absetzt vom sog. Mainstream.
Diese Orientierung reicht dann von den bekannten Fehrschen Gebötlein, welche als menschlicher Teil des neuapostolischen Würdigwerdungsprozesses betrachtet wurden, über diverse Nachfolgezwänge bis hin zur Vorstellung, man könne, ja müsse Gottes Plan und Willen – sei es über die Bibel oder mittlerschaftlich (oder beides) – auf irgendeine Art und Weise erschließen. Dafür, so dieser Glaube, hätte Gott ja gerade die biblischen Prophezeiungen gegeben (wozu sonst, so die teilweise weltentrückte Einfalt, sollten sie dienen?).
Von daher war die ganze Apostelbewegung seit Irving anfällig für div. weltgeschichtliche Periodisierungslehren (z.B. Dispensationalimus) und damit verbunden apokalyptische Entrückungslehren (Rapturismus), aufgrund derer nicht nur die Weltgeschichte, sondern auch das Christentum selber nach heilsgeschichtlichen Kategorien eingeteilt werden könnte. Zudem brauchte das Prinzip der Erwählung notgedrungenerweise das Gegengewicht einer Belohnung (auch hier stellt sich die Frage, wozu sonst Erwählung Sinn machen sollte). Insofern sind Erwählung, Würdigwerdung und endzeitliche Erwartung sich wechselseitig tragende Prinzipien, die zusammen eine schlüssige und für viele ungeheuer attraktive Endzeitlehre (das Belohnungssystem) ergeben.
Die Haupttragik liegt indes nicht am Wunsch, die göttliche Weltenuhr lesen und sich dann entsprechend einstellen zu können oder zu sollen, sondern an der Alternativlosigkeit, mit der die jeweiligen Lehren verfochten zu müssen geglaubt werden. Das macht sie einerseits zwar systemisch sehr stabil, aber andererseits psychologisch äußerst gefährlich, weil damit Angstzustände und Mängeltraumata usw. bewusst in Kauf genommen werden, welche nicht nur das gesunde Selbstbewusstsein und die naturgegebene Skepsis usw. vor allem von solchen Menschen zugrunde richten können, die sozialisationsbedingt schon keinen hohen Resilienzfaktor aufweisen, sondern die darüber hinaus auch zu allerlei Sozialhysterien beitragen oder führen (vgl. die diversen Endzeit-„Botschaften“). Aber scheinbar entschädigt die hohe Griffigkeit eines selbsttragenden Glaubensgeländers für vieles …