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von R/S » 07.07.2017, 10:36
Lieber Wolf aus der Heide,
verzeihen Sie bitte, wenn ich es grad raus sag: Die Art, wie sie schreiben und die Angst, die dahinter sichtbar wird, entspricht in vielen Dingen einer typisch neuapostolischen Sozialisation. Ich kann (und darf) das sagen, weil es mir im Grunde genau so ging.
Wilhelm Leber drückte diese Angst einmal so aus (noch als BAP): Das AT sei sicherlich nicht in allen Stücken wörtlich zu nehmen (so ähnlich), wohl aber das NT mit dem Heils- und Erlösungsweg Christi. Wenn wir auch das in Zweifel zögen, woran sollten wir dann noch unseren Glauben binden.
Gedanken dieser Art können nur in einem Glaubensumfeld entstehen, in dem die Bibel und/oder die Predigt als göttliche Verbalinspiration gesehen wird, die für alle und für alle Zeiten Gültigkeit hat. Wer mit einem solchen Glauben aufwächst, der empfindet diesen als eine Art 'verabsolutierbarer Rückversicherung'. Woimmer dieser Glaube, und sei es auch nur in kleinen Teilen, in Zweifel gezogen wird, wird die Rück- und damit geistige Lebensversicherung in Zweifel gezogen. Das ist dann gefühlsmäßig ungefähr so, als würde Ihre Mutter Ihnen als Jugendlicher sagen, dass Ihr Vater gar nicht ihr Vater ist, sondern dass der Briefträger Ihr richtiger Vater wäre. Damit stürzt für Sie Ihre ganz persönliche Lebenswelt zusammen und Sie wissen nicht mehr, woran Sie Ihr Vertrauen binden können und wodurch Ihr Leben noch Sinn hat. Dieses Gefühl, wenn auch in sehr abgeschwächter Form, meine ich aus Ihren Worten zu entnehmen.
Sehen Sie, ich hatte ja nirgendwo behauptet, die Bibel sei ein Märchenbuch. Vielmehr hatte ich selber ein Beispiel gegeben, was als authentische Jesusüberlieferung Geltung beanspruchen könne. Das Angst machende Element ist dabei wohl nur, dass es den Anschein habe, nur die Wissenschaft könne den Nachweis echter Authentizität erbringen, weil nur diese die notwendige Expertise besäße, um Wahrheit von Lüge/Irrtum zu trennen.
Nun ist es sicherlich so, dass diese Trennung demjenigen weggenommen werden muss, dem unser Vertrauen in diesen Dingen aus unseren Kindertagen heraus galt, nämlich der Kirche mit ihren Vertretern. Sich das einzugestehen ist bereits ein großer Kraftakt, aber andererseits auch schon die halbe Miete. Denn mit dem inneren Abdanken der Kirche als wahrheitsdefinierende Institution werden in jedem von uns Kräfte frei, um selber nach der Wahrheit zu suchen.
Auf dieser Suche werden wir zunehmend feststellen, dass diese Wahrheit kein dogmatischer Block sein kann, der für immer und alle Zeiten und für alle Menschen gleich wäre. Das würde nicht nur dem Schöpfungsprinzip, sondern der Liebe Gottes, die uns als unverwechselbare, einzigartige Individuen liebt, widersprechen. Denn was für den einen in seiner individuellen Lebenssituation richtig ist, kann für den anderen in seiner Lebenslage schon falsch sein. Jedes Lebewesen hat sein ureigenes Anrecht an der göttlichen Liebe. Deswegen ist es auch umso frevelhafter, ihm dieses Anrecht streitig zu machen oder gar zu versagen (aber dies nur nebenbei).
Indem dies alles zu Bewusstsein kommt und sich in uns weiter entwickelt, wird u.a. auch zunehmend deutlicher, was dieser Jesus wirklich gemeint haben mag, was in wirklichem Einklang mit jenem Grundprinzip der vorbehaltlosen und alles und alle umfassenden Liebe steht --- und was nicht. Je mehr wir uns von dem patriarchalischen Schutt unserer Glaubenskultur befreien (das Gute können wir durchaus behalten), kommen wir zunehmend dahinter: Alles, was dem Liebesprinzip der Goldenen Regel widerspricht, kann getrost als menschlicher Mist abgetan werden - auch und gerade, wenn es in der Bibel oder in kirchlichen Bekenntnissen (und vor allem im Gewande der Absolutheit) auftritt. Umgekehrt kann alles, was diesem biophilen Liebesgebot entspricht, getrost als Teil jener unveräußerlichen und niemals zu verabsolutierenden Wahrheit erachtet werden, die ihren Ursprung im Göttlichen hat - auch wenn sie uns in unkirchlichen/unbiblischen Dokumenten, wie beispielsweise dem Grundgesetz oder den Menschenrechten usw. begegnet.
Dass Sie das zunehmend erkennen, wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen.
R.S.