Predigt zu Römer 14, 10-13:

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Andreas Ponto
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Predigt zu Römer 14, 10-13:

#1 Beitrag von Andreas Ponto » 19.06.2016, 14:37

Heute hören wir auf den Predigttext aus Römer 14:

10
Du aber, was richtest du deinen Bruder?
Oder du, was verachtest du deinen Bruder?
Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11
Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23):
»So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12
So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13
Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn,
dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.


Liebe Gemeinde,

der Predigttext wendet sich direkt an jeden einzelnen von uns und an uns als Ganzes, als Gemeinde.

Er spricht direkt zu uns, aktuell, heute, hier und jetzt.

Er spricht zu uns als Gemeinschaft,
als Gemeinde Christi,

als Menschen mit Ecken und Kanten,
als Menschen mit Eigenheiten, Fehlern und Schwächen,
als Gemeinschaft von Individuen,
als Menschen, die aus ganz verschiedenen Himmelsrichtungen, Orten, Gegebenheiten, Umständen
und Voraussetzungen hier zusammenkommen und trotz aller Verschiedenheit Gemeinschaft sind und haben.

Er spricht zu uns als Gemeinschaft, als Gemeinde Christi.

Und als solche, als Gemeinde Christi, spricht er uns auf das Richten an.

Richten! Was verbinden wir mit diesem Tunwort alles?

Richten im Sinn von „richten über“:
urteilen, befinden über, kritisieren, begutachten, beurteilen, bewerten, strafen – richten eben.

Richten aber auch im Sinn von „vorbereiten“:
anrichten, bereiten, bereitstellen, herrichten, zurechtmachen.

Oder in der Bedeutung von „ausrichten“:
gerade richten, lenken, ordnen, stellen.

Richten – auch „in Ordnung bringen“:
bewerkstelligen, ausbügeln, gerade biegen, hinbekommen, regeln, bereinigen, wieder gutmachen.

Gestern bin ich auf eine evangelische Theologin aufmerksam gemacht worden: Elisabeth Schmitz.

Eine kurze Zwischenfrage:
Wer von Ihnen weiß mit Dietrich Bonhoeffer etwas anzufangen?

Und wer mit Elisabeth Schmitz? Haben Sie schon einmal von ihr gehört?

So ist es mir bis gestern gegangen: Ich hatte bisher schlicht nichts von ihr gehört.

Sie wurde 1893 in Hanau geboren und starb 1977 in Offenbach am Main.

Diese kluge Frau hat 1935 in ihrer Schrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ mit klarem Blick
erkannt und benannt, was auf Deutschland und auf die Juden zukommen wird.

Diese Schrift wurde in ca. 200 Exemplaren verteilt.
Sie forderte von Ihrer Kirche Solidarität für alle unterdrückten und Verfolgten. Sie erkannte ganz klar
wohin die Reise ihrer jüdischen Mitbürger gehen werde, wenn dem Wahnsinn nicht Einhalt geboten wird.

Als Mitglied der Bekennenden Kirche hatte Sie mit allen wesentlichen Denkern der Bekennenden Kirche
korrespondiert und ist mit ihnen verkehrt. Darunter auch Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer.

Die Kirche hat im Wesentlichen geschwiegen, Schmitz's Denkschrift ignoriert.

Als Schmitz es nicht mehr verantworten konnte weiter für den Staat als Lehrerin und Beamtin zu arbeiten,
hat sie schließlich um die Versetzung in den Ruhestand gebeten. Dem Antrag wurde stattgegeben.

Auch nach dem Krieg wurde von Staat und Kirche über sie geschwiegen.

Warum? Vielleicht, weil diese Frau uns allen den Spiegel vorhält, uns kollektiv beschämt?

Wer als Jünger Jesu, als Christ mit klarem Verstand, Aufmerksamkeit und offenen Augen durch die Zeit geht,
kann erkennen was zu tun ist, was und wo Not ist.

Das lehrt diese Frau. Diese mutige und unerschrockene Frau hat es gezeigt und zeigt es auch heute uns!

Auf ihrer Berliner Gedenktafel steht:

Als Pädagogin verweigerte sie die Mitwirkung an der Formung des nationalsozialistischen
Menschen auf rassistischer und totalitärer Grundlage

Als Theologin verwies sie auf die jüdischen Grundlagen des Christentums

Als Christin engagierte sie sich im Widerstand gegen die Shoa„

Bonhoeffer starb als Märtyrer, als Heiliger.

Sie überlebte trotz aktivem Widerstand gegen die Nazis und selbstlosen Einsatz für ihre jüdischen Mitbürger den Krieg.

Und doch war sie und ihre Botschaft selbst für ihre Kirche der Nachkriegszeit wie tot.
Hat sich die Kirche beschämt von ihr abgewendet, sie totgeschwiegen?

Warum?
Vielleicht, weil sie gezeigt hat, dass man eben doch bei Zeiten, ganz konkret 1933,
als sie in ersten Briefen warnte, erkennen konnte wo die Reise hingeht?

Dass Widerstand eben doch ganz konkret denkbar und möglich war!

Was ist das, wenn Populisten heute wieder in Parlamente einziehen und dumpfe Parolen unter das Volk streuen?

Was passiert da, wenn in der Türkei die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt wird.
Wenn Staatsmänner Bluttests fordern und deutsche Bundestagsabgeordnete wegen ihrer Haltung
zum Genozid an den Armeniern massiv bedroht werden und Polizeischutz benötigen?

Was geht vor sich, wenn Europa in Not gekommene, flüchtende Syrer an eilig hochgezogenen
Stacheldrahtzäunen abweist, Hilfe verweigert und schmutzige Deals mit der Türkei macht?

Was geht in den Köpfen vor sich, wenn politische Diskussionen mit Waffengewalt gelöst werden und
die britische Labour-Abgeordnete Cox in England auf Grund ihrer pro-europäischen Haltung einfach erschossen wird?

Wie ist das Phänomen Donald Trump in den USA auch nur im Ansatz möglich?

Was ist das, wenn in Deutschland Asylunterkünfte brennen? Allein 2015 wurden in Deutschland 733 rechts motivierte
Angriffe aus Asylunterkünfte gezählt und damit viermal so viel, als im Jahr davor!

Warum nur muss ein an Ihrer Schule gemobbtes Mädchen in den sozialen Medien vor Verzweiflung um Hilfe schreien,
weil Gespräche mit Schülern, Lehrern und Schulleitung einfach nichts bewirken?

Schmitz hält uns auch heute den Spiegel vor:
Wir fehlen als Individuum, als Gemeinde, als Kirche Christi.

Es ist an uns, an jedem einzelnen von uns, zu bekennen.
Es ist an uns, als Gemeinde, zu erkennen und zu bekennen.
Es ist an uns, als Kirche, zu erkennen und zu bekennen,
dass wir Sünder sind.

Diesen Blick öffnet uns der vierte Sonntag nach Trinitatis:
Den Blick auf die Gemeinde als der Gnade Gottes Bedürftige.
Die Erkenntnis der eigenen und der kollektiven Schuld ermöglicht diesen Blick.

„Du aber, was richtest du deinen Bruder?
Oder du, was verachtest du deinen Bruder?„

Und gerade dann und dadurch wird möglich und verwirklicht sich wunderbar, was Christi anliegen ist:
„Einer Trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Mit unter das Kreuz gehen.

Eintreten für den schwachen Menschen.

Sich gleich machen mit dem Verachteten und Ausgegrenzten.

Nichts verharmlosen, nicht wegschauen, nicht leugnen.

Sich als Gemeinschaft der Sünder begreifen. Unter dem Kreuz Christi einfinden, wiederfinden und zueinander finden.

Im Kreuz Christi berühren sich Himmel und Erde, findet Mensch zu Mensch.

Unter dem Kreuz Christi können wir offen, ohne Scham und Angst unsere Stimme mutig erheben.

Klar und deutlich Unrecht als Unrecht benennen.

Für Schwache und Geschundene eintreten, Ihnen zur Seite stehen und ihre Menschenwürde einfordern.

Im Verteilungskampf nicht nach unten treten und nach oben eifern, sondern uns mit den
vermeintlich Geringen und Verachteten gemein machen.

So wie Christus selbst es getan und gefordert hat.

Und so können wir dann auch alle getrost vor den Richterstuhl Christi treten.

Denn er wird es wohl richten – uns neu richten, ausrichten, herrichten, aufrichten.

Amen.


Es gilt das gesprochene Wort.

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