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Beitrag
von Philippus » 17.11.2009, 15:31
Nennt man das Depression?
Ich kann nicht sagen, daß mir etwas fehlte. Nein, ich fühl mich sogar relativ wohl, wie auf Wolken, irgendwie. Ich gehe oder sitze, schaue so in die Runde und nehme meine Umwelt sehr wohl wahr, manchmal zwar fast wie durch einen Nebel oder einen Schleier, aber immerhin. Ich sollte auch daran teilnehmen, am Leben, an meiner Umwelt. Jedenfalls wüsste ich, was zu tun wäre.
Der Job wartet. Aber irgendwie kann ich nicht. Ich will mich einfach nicht bewegen, nicht aktiv werden. Und dabei sollte ich doch eigentlich meine Arbeit tun, die fein säuberlich geordnet und aufgereiht auf dem Schreibtisch liegt und dort auf mich wartet, oder sonstwo.
Naja, die Arbeit wartet darauf, getan zu werden; ob von mir oder jemand anderem, das sei dahingestellt. Je nachdem wer das Geld verdienen will. Und wieviel. Aber was soll’s. Papier ist geduldig und Kunden können warten. Ich grübel derweil so vor mich hin.
Ich kann immer noch nicht sagen, daß mir etwas fehlt. Ich fühl mich momentan so wohl, wie ich hier sitze und schreibe. Will hier sitzen bleiben. Schauen und denken, denken und schauen, immer wieder im Kreis heum meinetwegen; bloß nicht bewegen, bloß nicht raus müssen. Ganz abgesehen von dem Novemberwetter da draußen.
Möchte einfach mit meinen Gedanken allein sein. Hier drin im Warmen, allein mit meinen zugegebenermaßen etwas trüben Gedanken, allein in meinen Kopf. Oder so. Von wegen rausgehen, mit anderen Leuten reden, etwas unternehmen, vielleicht sogar noch etwas ändern. Nachher bewegt sich wirklich noch was in meinem Leben. Nene, lass mal. Alles ist gut, find ich, so wie es ist. Ich brauch einfach nur Ruhe, viel Ruhe. Will nur allein sein.
Hab einfach keinen Bock, mich zu bewegen, Erwartungen anderer zu erfüllen, Fakten schaffen, Ergebnisse erziehlen oder so. Nachher wird eh nur wieder kritisiert, was man hätte besser oder einfach nur anders machen können, sollen, müssen, tun. „Die machens billiger, wir sind aber besser“, hier ein Deut und da noch was anderes. Nene, lass ma’. Ich bleib lieber für mich.
In der Kirche war’s ähnlich wie im Job. Jeden Tag was anderes. Gottesdienste, Singstunden, Ämterstunden, Weinbergsarbeiter- oder Gemeindeabende, Kirche putzen, Orgelspielen bzw. üben, Intrumentalchorstunden, Hof kehren, Blumenstecken, Krankenbesuche, irgendwo und irgendwem mit dem Chor ein Ständchen singen, ständig war was los. Jeden Tag. Nur nach mir hat keiner gefragt, ich auch nicht. Dabei hab gerade ich mich so manches mal so verdammt allein gefühlt. Ganz ehrlich. - Gesagt hab ich nix, habs ja oft selbst nicht geschnallt, daß mir möglicherweise etws fehlen könnte. Aber es war halt so. Ganz normal halt.
Manchmal denke ich, es ist schon blöd, wenn man alles kann. Weil man dann nämlich bei jedem Mist geholt wird. Immer wieder vorne dabei, immer wieder funktionieren, laufen, springen, machen, tun. Wie es mir dabei ergeht beziehungsweise erging war nebensächlich, jedenfalls kam mir das so vor. Hauptsache war, daß die Chefs sich wieder produzieren konnten, stolze Worte und Reden schwingen und so. Oder halt die Leute, die sich für cheffich hielten. – Und wenn bei Konzerten oder einfach nur Musikvorträgen im Gottesdienst die Stücke zu anspruchsvoll waren, wurde Fehlendes entweder durch die schiere Menge an Sängern oder durch laute Orgelbegleitung wett gemacht. Zu schwer gabs nicht, Überforderung ebensowenig. - Is’ nur’n Beispiel.
Hab halt immer meine Arbeit gemacht, mich zumindest bemüht. Und auf jeden fall den Schein gewahrt. Und wenn’s dann geklappt hat, war man ja auch stolz. Aber viel zu oft blieb ein schaler Nachgeschmack. Und die Einsamkeit.
Soll niemand jetzt denken, mir fehlte etwas, ich hätte zu klagen, wollte mich am Ende noch beschweren. Nene, et iss wie et iss, wie der Rheinländer sagt. Hab ja seinerzeit selbst alles mitgemacht. Das Wort „Nein“ gab’s halt lange nicht. Und anfangs meiner Forenzeit habe ich aus gutem Grund mal zugegeben, daß es da auch einen gewissen Status gab. Allein schon dadurch, daß man halt über all dabei war. So’n Status ist in gewissen Gesellschaften auch gene mal erblich oder familiär bedingt – Böse Zungen nennen so was übrigens Segenslinie.
Nicht, daß jetzt irgendwer glaubt, mir fehlte doch was. Wirkich nicht. Nene, mir geht’s eigentlich ganz gut. Ich krieg nur den Ar… nicht hoch. Will einfach nur in Ruhe gelassen werden und mit meinen Gedanken aleine sein.
Manchmal denke ich, mir geht’s wie dem einen Riesentyp, der im Zwergenland unterwegs war und sich irgendwie in Bindfäden verfangen hatte. Gulliver hieß der, glaub ich. Gedanken sind auch manchmal wie Bindfäden. Du kommst da irgendwie nicht mehr raus. Nicht daß das unangenehm wäre. Nene, alles ist doch rgendwie vertraut. Es sind ja auch die eigenen Gedanken. Unangenehm ist allein der Gedanke, daß so viel liegenbleibt, so viel Leben. Aber man muß sich das Alleinsein auch was kosten lassen. – Vielleicht nennt man das Depression, oder so.
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Und von dem ganzen Rest eines – zugegebenermaßen ypsilon-verchromten – Lebens, von privaten und geschäftlichen Mißerfolgen, von Insolvenz, Abeitslosengeld I und II, von Alkohol, gesundheitlichen und sportlichen Herausforderungen, sonstigen Abhängigkeiten und dem ganz normalen Wahnsinn war noch gar nicht die Rede, aber wir wollen ja auch nicht anfangen zu jammern.
Mir geht’s ja auch eigentlich ganz gut. Ich will halt nur allein sein … mit meinen Gedanken … in meinem Kopf …