Lieber Herr Streich!
Ihre Reaktionen auf das von Ihnen in der NAK Erlebte und auf das bei Anderen beobachtete psychische Leid verursacht durch die NAK kann ich gut verstehen. Ich sehe aber in Ihrem letzten Beitrag eine Tendenz, von Ihren Erfahrungen zu sehr auf andere zu schließen, zu stark zu verallgemeinern und damit die NAK-Welt zu sehr zu vereinfachen.
Nicht jeder wurde in der NAK psychisch missbraucht, unter Druck gesetzt, einer Gehirnwäsche unterzogen, mit Angst gefügig gemacht usw.
Manche Eigenschaften des Systems „NAK“ sind so, dass diese schlimmen Dinge gefördert wurden und noch werden (Laien-Prinzip, hierarchische Struktur, Überhöhung der Amtsträger, Verjenseitigung … – Sie haben ja hier und da im Internet einige wertvolle Beiträge dazu geleistet, solche Systemeigenschaften zu sammeln und zu kommunizieren). Aber die NAK war nie so homogen, wie von der NAK behauptet oder gewünscht. Die Heterogenität von Bezirk zu Bezirk, von Gemeinde zu Gemeinde war und ist groß und erklärt ganz gut, warum so manche Kritiker sich so oft in den Internetforen unverstanden fühlen: Man hat eben ganz anderes erlebt.
Ich finde es sinnvoll, sich genau anzusehen, wo die Stärken der NAK liegen, wo und warum sie den Menschen gut tun kann - und wodurch die NAK Menschen klein macht, sie (zer)stört und abhängig macht. Man kann diese förderlichen oder destruktiven Systemeigenschaften auch in anderen Kirchen finden und so nach einer Kirche bzw. Gemeinde Ausschau halten, wo man ein ausreichend positives System vorfindet. Vielleicht können Sie durch Ihre pauschalisierenden Warnungen vor der NAK einiges Leid verhindern, vielleicht einige Ablösungsprozesse erleichtern - Menschen, die eine gewisse Schwelle an innerer Distanz zur NAK noch nicht überschritten haben, könnten jedoch von differenzierteren Äußerungen vielleicht noch mehr profitieren.
detlef.streich hat geschrieben:Aussteigen offiziell oder nicht ist aus meiner Sicht eine Frage der fortschreitenden Erkenntnis des Betreffenden (Lehre als falsch erkannt) …
Mein Fazit: Die Gründe, drin zu bleiben, sind angstbestimmt, …
Ich bin mir sicher, dass jeder Aussteiger seinen Weg mit fortschreitender Erkenntnis erklären wird - und dass dabei Angst auch oft ein Thema ist. Jedoch beinhaltet eine solche Aussage, dass es allen, die noch nicht so weit sind, an Erkenntnis fehlt - oder dass sie ihnen einfach der Mut zum Ausstieg fehlt. Meiner Meinung machen Sie damit den gleichen Fehler wie in der NAK: „Wer in der NAK-Predigt nicht selig wird, dem fehlt es an Erkenntnis“ - „Wer in der NAK-Predigt selig wird, dem fehlt noch Erkenntnis.“ Sie haben irgendwo einmal geschrieben, dass in der NAK ein großes Problem ist, dass man Gefühle vorgeschrieben bekommt - „Du musst dich jetzt so oder so fühlen, sonst bist du irgendwie krank.“ Ähnlich ist es mit dem Vorschreiben von Verhaltensweisen, wenn auch nicht so perfide wie mit den Gefühlen. Wenn du nicht das oder das machst, bist du krank/gestört/dumm/abhängig … Hören wir doch den Menschen zu, wie sie ihr Verhalten begründen - vielleicht ist es ganz anders, als man es selbst erlebt hat und vielleicht ist es wirklich eine freie und angstfreie Entscheidung (falls es überhaupt so etwas geben kann) aus guten und nachvollziehbaren Gründen heraus.
detlef.streich hat geschrieben: Ehe man sich psychisch kaputt glaubt und hofft, sollte man die Konsequenz aus den gemachten Erfahrungen ziehen und nicht nur wegbleiben, sondern tatsächlich austreten. …
Das Problem mit der Hoffnung möchte ich unterstreichen: Es kann wirklich sein, dass Hoffnung, von der man sonst nur positives hört, einen in den Abgrund führt, weil man auf eine Änderung der Verhältnisse hofft, die aber nie eintritt und sich so in psychische Spannungen bringt, die irgendwann die eigenen Kräfte übersteigen. Ich würde aber nicht generell zum Austritt raten, sondern dazu, seine eigenen Kräfte gut im Blick zu haben und sich über die gehegten Hoffnungen mit anderen ähnlich Gesinnten auszutauschen und diese Hoffnungen immer wieder an der gemeinsam erfahrenen Realität zu messen. Außerdem würde ich nicht generell zum Austritt raten, weil es Menschen gibt, bei denen tatsächlich die Angst noch zu groß ist, als dass sie einen Austritt vor sich rechtfertigen könnten. Mit einem solchen Rat würde ich sie gefährlich unter Handlungsdruck setzen. Vielleicht würden sie mit einem Austritt zumindest im Moment noch die Grenze des für die Familie ertragbaren überschreiten. Warum sollte man sie zu einem Austritt drängen? Ich würde sagen, wer es machen will, soll es ohne schlechtes Gewissen machen, wer zu diesem Schritt noch nicht bereit ist oder diesem Schritt keine relevante Bedeutung beimisst, soll es ebenfalls guten Gewissens bleiben lassen.
detlef.streich hat geschrieben: Irgendeinen tatsächlichen, echten Sinn in Richtung einer Lebensbedeutung gibt es in der NAK nicht.
Da bin ich anderer Meinung. Es ist durchaus möglich, dass der Weg, den ein Mensch in der NAK geht, einen Sinn ergibt: Dass er wächst an Mitgefühl, Güte, sozialer Verantwortung usw. Dass er anderen Menschen eine Hilfe sein kann. Es kann auch sein, dass dieser Weg dieses Menschen in der NAK irgendwann keinen Sinn mehr ergibt: Dass er seine Kräfte aufzehrt und weder sich selbst noch andere Menschen ihren Zielen näher bringt. Dass er das System, in dem er ist, nicht mehr in beabsichtigter Weise beeinflussen kann. Ich würde daher raten: Höre auf dein Herz, rede viel mit anderen darüber und du wirst recht gut den Punkt fühlen, ab dem es für dich keinen Sinn mehr ergibt. Nachher wirst du vermutlich sagen, „eigentlich hätte ich früher gehen sollen“, aber die menschlichen Beharrungskräfte sind nun eben mal da - und diese sorgen im Allgemeinen ganz gut dafür, dass wir für uns große Entscheidungen erst treffen, wenn wir uns ganz sicher sind.
Um es auf den Punkt zu bringen: totale NAK-Herabsetzung macht im Prinzip den gleichen Fehler wie eine NAK-Seligsprechung: Es ignorieriert die Vielfalt an positiven wie negativen Erfahrungsmöglichkeiten in der NAK und hilft dem Betroffenen selten, zu einer eigenen, mündigen und authentischen Entscheidung zu kommen, wie er in seiner momentanen psychischen Verfassung mit seiner eigenen NAK-Lebensgeschichte und der Möglichkeit, andere Wege gehen zu können, umgehen soll.
Es hilft vermutlich mehr, dass wir uns z.B. in einem Forum wie hier austauschen:
„In der NAK bleiben? - Das geht, ich habe einen Weg gefunden, und zwar …. - ich weiß aber nicht, wie lange ich das noch so durchziehen kann, weil … Was mir dabei hilft, ist …“
„Die NAK verlassen? - Das geht, bei mir war das und jenes ausschlaggebend und diese Probleme hatte ich, das kommt vielleicht auch auf dich zu, wenn du gehst. Aber die Befürchtungen, von Gott verlassen zu werden, haben sich nicht bewahrheitet und es war auch sozial zu bewältigen, weil … Und jetzt geht es mir viel besser, weil …“ Zu einem solchen Austausch möchte ich ermuntern.