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von Matthias » 24.07.2017, 23:59
Ich möchte noch einmal zusammenfassen, was ich in diesem Forums-Thread an vermuteten verborgenen bzw. versteckten Gründen für das Nicht-Aussteigen bisher lesen konnte.
1. Da ist die Diagnose, sie würden sich selbst täuschen, und Gründe erfinden, warum sie denn bleiben müssten - in Wirklichkeit fehle ihnen der Mut zu gehen bzw. sie hätten Angst vor den Konsequenzen, Angst vor dem Scherbenhaufen ihrer kirchlichen Vergangenheit zu stehen oder einfach vor dem dann folgenden unbekannten Terrain.
Ja - ich halte es für möglich, dass das bei einigen zumindest in einer bestimmten Zeitspanne so ist. Nur was ist die Konsequenz daraus? Wie helfen wir diesen Menschen, die Selbsttäuschung zu beenden? Indem wir sie mit unserem Anspruch konfrontieren, besser als sie selbst zu wissen, was in ihnen vorgeht? Das würde doch jede weitere vertrauensvolle Kommunikation verhindern. Ein guter Therapeut zum Beispiel nimmt den Patienten ernst und kommuniziert mit ihm entsprechend. Vielleicht stellt er ein paar Fragen und er hört aktiv zu, um den Patienten dazu einzuladen, über sich selbst und seine Gedanken und Empfindungen gründlich nachzudenken. Der Patient muss selbst zum Schluss kommen, dass er sich selbst was vormacht. Nur, wenn er das selbst erkannt hat, ist er auch bereit, sich davon zu lösen. Wir können natürlich auch versuchen, ihnen die Ängste zu nehmen, indem wir als Aussteiger davon berichten, dass unser Ausstieg eine richtige Entscheidung war, bei der wir höchstens bedauern, dass wir diesen Schritt nicht früher getan haben. Dass wir neue soziale Kontakte gefunden haben, dass uns die jetzt erlebte Freiheit und die Tiefe in den Predigten viel mehr wert sind als alles, was wir beim Austritt vielleicht verloren haben usw.
Ich habe manchmal beim Lesen in den Foren den Eindruck, dass es leichter ist, jemanden die Diagnose „Angsthase - du machst dir doch nur was vor!“ um die Ohren zu schlagen als unvoreingenommen zu zu hören oder sich zu überlegen, was hilfreich sein kann.
2. Es wird unterstellt, sie würden aus egoistischen/narzisstischen Motiven bleiben, weil sie es genießen, als Amtsträger immer wieder im Mittelpunkt zu stehen und wichtig zu sein. Ja - auch ich habe den Eindruck, dass das bei einigen der Fall ist. Und das Krasse ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob dies bei mir vielleicht auch eine Zeitlang der Grund meines Noch-Bleibens war. Aber: Der Egoisten-Vorwurf erinnert mich an den Unterricht bei meinem Deutsch- und Philosophie-Lehrer. Wir hatten viel darüber diskutiert, welche Motive wir einer Person in einem literarischen Text attestieren können und sind zur Erkenntnis gekommen, dass man jedem eigentlich immer eine altruistische Motivation absprechen und eine egoistische Motivation unterstellen kann. Selbst der sein Leben für andere opfert, tut das ja vielleicht nur, um selbst im Jenseits/Paradies dafür unermesslich belohnt zu werden oder um selbst in den Geschichtsbüchern unsterblich zu werden. Aber nicht immer gibt es eine gute Übereinstimmung zwischen den Motiven, die man von außen meint zu erkennen, und denen, die tatsächlich im Kopf des Subjekts drin stecken. Insofern ist das Unterstellen von egoistischen Motiven etwas ähnliches wie ein Totschlagargument - es ist leicht behauptet und praktisch nicht zu entkräften - außer durch die Glaubhaftigkeit der Person (was wiederum voraussetzt, dass man die Person gut genug kennt).
Auch hier stelle ich mir die Frage, wie geht man mit jemandem um, der sagt, er bleibe ja nur wegen den Geschwistern („die kann man ja nicht im Stich lassen“)? Ich denke, man merkt an der Art, wie er sein Amt ausübt ganz gut, ob er das aus Nächstenliebe macht oder ob er einfach das Gefühl braucht, gebraucht zu werden. An der Art, wie jemand hier im Forum schreibt, merkt man das viel schlechter, dazu muss man viel zu sehr zwischen den Zeilen lesen, was ja ziemlich unsicher ist.
Vielleicht könnte man jemandem raten, doch einfach mal zu den Geschwister zu gehen, ihnen offen seine Zweifel zu äußern, ob er in der richtigen Kirche ist und sie zu fragen, was sie ihm raten würden - gehen oder bleiben? Wenn es ein Selbstdarsteller bzw. Wichtigtuer ist, werden sie ihm vermutlich raten, zu gehen …
Was vermutlich auch helfen könnte, ist, eine Aktivitätspause in der NAK zu empfehlen. Er soll sich einfach mal 3-6 Monate beurlauben lassen (er kann sich dann sagen, dass die Geschwister es so lange überleben werden) und - was wichtig ist! - eine andere Gemeinde besuchen. Ich denke, dass er dann merken wird, ob ihm das im Mittelpunkt stehen fehlt (ist allerdings schwierig, wenn er in anderen Kontexten, z.B. beruflich schon genug von dem Bedürfnis im Mittelpunkt zu stehen befriedigen kann). Ich würde vermuten, dass er in der Regel schnell merken wird, dass die Geschwister gar nicht so häufig nach ihm fragen, wie er das vermutet hätte. Als ich bedingt durch meine Hochzeit innerhalb des Ältestenbezirkes in eine andere Gemeinde wechselte (mit Erhalt des Amtsauftrags), weinten einige Geschwister und man konnte den Eindruck haben, dass ich ihnen sehr fehlen würde - sie haben es aber ganz gut verkraftet und sich nicht einmal noch bei mir gemeldet (sind auch bis heute treu geblieben). Ich würde also weniger in Frage stellen, ob ein Amtsträger auch wirklich ganz altruistisch für die Geschwister da sein will, sondern eher in Frage stellen, ob die Geschwister das wirklich so wollen oder so brauchen, wie er sich das vorstellt.
3. Es wird vermutet, dass ihnen einfach Wissen fehlt: Wissen über die Bibel, über Gottesbilder, über die Entwicklung des Christentums, Wissen über die destruktiven Strukturmerkmale der NAK und die Irrungen in der NAK-Geschichte. Ich glaube nicht, dass dies das Entscheidende sein muss. Ich kenne das von mir auch, dass man versucht, das zu verdrängen, was man an der NAK ablehnt. Man blendet das eben alles aus und versucht einfach dort, wo man ist und bei dem, was man macht, möglichst viel Jesus reinzupacken. Dann die Vergangenheit, die Kirchengeschichte (Christentum allgemein und NAK speziell) und Bibelkritik, psychologisch ihre Bedeutung. Die Gegenwart allein zählt. Ich bin der Meinung, dass ich selbst in der NAK genug darüber gelernt habe, wie christliches Verhalten aussehen sollte - und wenn ich genau diesen Maßstab an das anlegte, was ich in der Gegenwart an Verhalten der Kirchenleitung mitbekam, kam ich immer mehr zu dem Schluss, dass für mich zu wenig an Heiligem Geist zu spüren war (und dass ich mit dem, wozu ich mich vom Heiligen Geist inspiriert fühlte, in immer stärkeren Konflikt mit der NAK-Linie kam). Die erlebte alltägliche Gottferne in der NAK war für mich das Hauptargument. Ich weiß, dass für viele, die gingen, ein Haupt-„Augenöffner“ die Lektüre von Büchern war, die die Fundamente der NAK (und konservative bis fundamentalistische Glaubengrundsätze überhaupt) in Frage stellten. Vermutlich waren solche Texte auch in einer ziemlich frühen Phase für mich wichtig, um überhaupt erst mal das Gefühl „Wir allein sind die richtigen“ aus dem Kopf zu bekommen. Aber für eine Entscheidung „gehen oder bleiben“ waren diese für mich nicht mehr wichtig. Ich will hier aber gar nicht den Wert solcher Literatur in Abrede stellen! Wir sind hier aber nicht in dem Thread mit den Gründen zu gehen, sondern in dem Thread mit den Gründen zu bleiben. Also: Ein Grund zu bleiben kann diesbezüglich sein, dass das ganze Wissen aus der Bibel- und Religionskritik einfach ab einem bestimmten Punkt nicht mehr wichtig ist. Auch ich hatte mir einiges an theologischer Literatur und an Literatur über die Bibel besorgt und auch einiges davon gelesen. Vielleicht verhinderte der berufliche Stress, dass ich mehr Zeit mit solcher Literatur verbrachte, vielleicht war ich schon über einen kritischen Punkt hinweg, als ich die Bücher gekauft hatte, ich muss aber konstatieren, dass ich seit meinem Austritt nicht weiter in den Büchern gelesen habe. Was mich wohl am meisten beeinflusst hatte, waren Bücher in Richtung Mystik, Meditation, über die Erfahrungen, die Menschen dabei gemacht haben und die Art, wie diese von Gott erzählten. Und wenn man bedingungslose Liebe und die alleinige Existenz der Gegenwart zusammen nimmt, kann man ganz gut in einer NAK mit noch so falscher Vergangenheit und noch so vielen Systemfehlern bleiben - wenn man es denn will und man ein ausreichendes menschliches „Biotop“ in der Gemeinde vorfindet. Man kann aber auch leichter gehen. Daher denke ich, dass die genannte Thematik sowohl denen helfen kann, die bleiben wollen, wie auch denen, die gehen wollen (und wenn ich nach einem konkreten Hinweis gefragt werden würde, würde ich z.B. Bücher von Jörg Zink empfehlen).