
in meinem Geburtsjahr, 1945, hatten die Leute ihre Uniformen beschämt abgelegt, heimlich versteckt oder ängstlich verbrannt. Nur nicht erkannt werden. 6 Jahre später, 1951, waren Kleidungsstücke egal. Hauptsache man hatte überhaupt welche. Vor allen Dingen für sonntags, zum Gottesdienst.
Ich erinnere mich an einen zentralen Kindergottesdienst in der Gemeinde Berlin-Schöneberg, Erfurter Straße. Ich weiß nicht mehr wie viele Kinder wir dort waren. Aber alle waren wir höchst verschieden gekleidet. Festlich! Jedenfalls so festlich, wie es unseren Müttern damals eben möglich war uns festlich zu kleiden.
Endlich ertönte die große Orgel, dann ging die Tür, gleich hinter dem Altar, auf und dann kam der Apostel Arthur Landgraf raus. Lächelnd und winkend. Wir empfingen ihn mit dem Kinderlied: „Ich heiße kleiner Sonnenschein, will jedermann zur Freude sein. Das ist mein herrlichster Beruf, zu dem mich Gottes Liebe schuf...“
Ich weiß nicht mehr, was dieser sehr liebenswerte Mann uns damals mit seiner leicht sächselnden aber wohlklingenden Stimme sagte. Was ich aber noch genau weiß ist dieses: Ich war mir ganz sicher, dass ich jedermann eine Freude sein wollte und dieses einmal auch mein Beruf werden sollte, Sonnenschein. Und ich bin mir immer noch sehr sicher, dass das die vielen anderen Kinder um mich herum auch sein und werden wollten. Sonnenschein - ein einheitliches Bild.
Jahre später, 1955, war ich erstmals 3 Wochen in einem Ferienlager. Es gehörte der Deutschen Reichsbahn, lag in Brandenburg (DDR) und trug den Namen von Ernst Thälmann, ein von den Nazis umgebrachter Kommunistenführer.
Wieder befand ich mich in einer Menge vieler Kinder. Wir kamen aus Ostberlin, Westberlin und dem Berliner Umland. Nach wenigen Tagen bemerkte ich kleine Unterschiede. Die Ostler hatten schlichtere Kleidung als wir Westler, ihre Seife roch anders als die unsrige, schäumte nicht und deren Zahnpaste schmeckte gräulich und nach Sand. Mit einigen Tauschgeschäften verschaffte ich mir ein gewisses Ansehen. Sie wählten mich sogar zum Gruppenratsvorsitzenden und, weil ich so schön singen konnte, durfte ich vor dem Schlafengehen über den Lagerfunk Gutenachtlieder vortragen.
Diese Ferienlageraufenthalte wiederholten sich, Jahr für Jahr, bis 1961. Einmal besuchte uns dort die Witwe des Arbeiterführers Ernst Thälmann, den man allgemein „Teddy “ nannte. Die Ostler hatte ihr blaues Pioniertuch um. Das hatten wir Westler nicht. Rosa Thälmann saß mit uns am Lagerfeuer und erzählte uns von ihrem Mann und den schlimmem Zeiten während der Hitlerdiktatur. In den Pausen sangen wir, begleitet von dem Mann mit der Ziehharmonika, Lieder.
Welche Lieder wir sangen? Natürlich Kampflieder der Arbeiterbewegung. Etwa das Spanienlied von den Moorsoldaten, das Lied von dem kleinen Trompeter, das Lied von der Heimat die geschützt werden muss und, am feierlichen Schluss, als das Lagerfeuer langsam verlosch, auch noch die Internationale.
Mich haben diese kindlichen Gemeinschaftserlebnisse damals sehr beeindruckt und ich empfand es als herrlich, mich in Geländespielen in zwei Gruppen (rot gegen blau) austoben zu können, erstmals mit einem Luftgewehr schießen zu dürfen, mit Keulen das Handgranatenwerfen nachzuspielen und einmal pro Woche, beim Tanzabend, mich im Takt zur Alten Kuckucksuhr, mit einem Mädchen, im Kreis zu drehen. Herrlich! Jedes Jahr eine neue Brieffreundschaft mit den ersten zarten Vorboten des sich Verliebens.
Irgendwann später haben sie mich sogar zum Lagerratsvorsitzenden gewählt und mir das rote Halstuch umgehängt. Dann durfte ich den morgendlichen Fahnenappell abnehmen und es war ein wohltuendes Gefühl, etwas besonderes zu sein, Bedeutung erlangt zu haben, wichtig zu sein und das erhebende Gefühl auszukosten, wenn von einem auf den anderen Augenblick alle anderen mucksmäuschenstille werden und stramm stehen, wenn ich meine Stimme zu einer flammenden Rede erheben konnte. Und ich konnte...
Nein, ein Sozialist, gar ein Kommunist, bin ich wegen dieser Kindheitserlebnisse in der DDR nicht geworden. Davor bewahrte mich zweifellos mein christliches Elternhaus sowie eine gesunde neuapostolische Grunderziehung. Im Nachhinein erkenne ich jedoch, dass eine weiße Bluse, ein blaues oder ein rotes Halstuch etwas tiefgreifendes bewirken können, zumal bei kleinen und heranwachsenden Kindern: „Ich bin etwas ganz besonderes, das an Äußerlichkeiten hängt. “
Irgendwann, Mitte der 80er Jahre, muckten die Frauen in meiner Westberliner Gemeinde auf. Sie gifteten, erst heimlich, bald auch öffentlich in den Übungsstunden, gegen den allersanftigsten Zwang, zu den Gottesdiensten stets einen schwarzen Rock und eine blütenweiße und insbesondere eine blickdichte Bluse tragen zu sollen. Als diese Proteste alsbald die Bezirksleitung erreichten, erschien ein leibhaftiger Bezirksevangelist zur Übungsstunde...
Erst versuchte es dieser bedauernswerte Mann mit Donnern. Als diese ergebnislos verhallten, verlegte er sich auf Kompromisse. Nein, er erlitt keinen Rückgratbruch als er konzidierte, dass diese Festkleidung wenigstens zu Festgottesdiensten anzulegen sei. Und wieder erhob sich die schneidige Stimme einer besonders aufmüpfigen Schwester fragend: „Warum?“ Seine von mir als resignierend erlebte Antwort war: „Wir wollen doch ein einheitliches Bild abgeben.“
Und damit nun in der Eile keine Missverständnisse aufkommen: Nein! Es ist wohl grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Trachtengruppen, Chöre, Spielmannszüge oder andere Vereine bei ihren öffentlichen Auftritten Wert auf ein einheitliches Outfit legen. Was spricht dagegen? Ich halte beispielsweise Schuluniformen grundsätzlich sogar für sinnvoll.
Wichtig ist mir lediglich, dass der einzelne Mensch nicht hinter Klamottenkulissen verschwindet, plattgemacht und, von was auch immer für einer Idee, vereinnahmt und als Mensch gleichgeschaltet, mundtot gemacht wird. Das ist alles.
Carl Zuckmayer lässt seinen Hauptmann von Köpenick an einer entscheidenden Stelle sagen: „Erst kommt die Wanze und dann die Wanzenordnung. Erst kommt der Mensch und dann die Menschenordnung.“
Liebe Grüße, landauf und landab, von Eurem Micha
