Gott und das leid

Für Zweifler und andere gute Christen
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glasperle

Gott und das leid

#1 Beitrag von glasperle » 13.04.2017, 07:53

Im Alten Testament ist ein ganzes Buch der Frage gewidmet, wie der Mensch sein Leiden verstehen kann. Hiob heißt die Figur, die viele Schriftsteller inspiriert hat. Gott erlaubt dem Satan, Hiob zu versuchen, indem er ihm alles nimmt, was sein Leben ausmacht. Seine Kinder kommen um und er verliert seinen ganzen Besitz. Trotz des Leids, das ihm zugefügt wurde, zweifelt Hiob nicht an Gott. Die Freunde Hiobs versuchen ihm zu erklären, daß er sich verfehlt haben muß und daher sein Leiden als Strafe zu verstehen sind. Diese Erklärung wird im Hiobbuch als nicht tragfähig erwiesen. Eine Antwort erhält Hiob allerdings nicht. Der Leser des Hiobbuches lernt, daß der Mensch seine Klage vor Gott bringen kann, ohne daß damit Gott beleidigt werden kann.

„Leiden, Schuld und Tränen schreien nach realer Überwindung des Übels. Daher ermöglicht erst die Einheit von Schöpfung und Erlösung im Horizont der Eschatologie eine haltbare Antwort auf die Frage der Theodizee, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes in seinen Werken. Genauer gesagt, es ist allein Gott selbst, der eine wirklich befreiende Antwort auf diese Frage zu geben vermag, und er gibt sie durch die Geschichte seines Handelns in der Welt und insbesondere durch dessen Vollendung mit der Aufrichtung seines Reiches in der Schöpfung. Solange die Welt isoliert im Blick auf ihre unvollendete und unerlöste Gegenwart einerseits, unter dem Gesichtspunkt ihres anfänglichen Hervorgangs aus den Händen des Schöpfers andererseits, betrachtet wird, bleibt die Tatsache des Bösen und des Übels in der Schöpfung ein auswegloses Rätsel.“
Quelle: Wolfhard Pannenberg, „Systematische Theologe“ Bd. 2, S. 193

Boris

Re: Gott und das leid

#2 Beitrag von Boris » 13.04.2017, 12:25

Ich empfinde es eher als ein "göttliches Spielchen" (Hiobgeschichte).
Man mag viel darüber spekulieren, ob Gott wusste oder ahnte, das Hiob standhaft bleiben würde.
Ich frage mich nur, warum er das ganze Sterben und Leiden zuließ. Brauchte er soviel teure "Späne" beim Hobeln, um zu beweisen, dass sein "Spieler" für ihn gewinnen würde? Das würde einen merkwürdigen Charakterzug offenbaren.

Ich würde das in die Liga des unvermeidlichen Leidens Christi zum Zweck der Erlösung einordnen.
Da stimme ich mit Frau Ranke - Heinemann überein: Hat Gott keine andere Möglichkeit, als nur den Weg des Blutvergießens? Hat Gott nur die Wege des endlosen Leidens als Möglichkeit? Oder benutzt nur diese?

Fragt Boris

glasperle

Re: Gott und das leid

#3 Beitrag von glasperle » 13.04.2017, 12:55

Lieber Boris,
Wenn ich die hiobsgeschichte lese werde ich oft wütend, aber seltsamer Weise Nicht auf Gott.irgendwann in meinem Leben habe ich beschlossen zu akzeptieren, dass es leid gibt auf dieser Welt und ich das mir nicht erklären kann, dass in meinem Kopf der allmächtige Gott nicht gut sein kann, wenn er dies zulässt oder der gute Gott nicht allmächtig sein kann, wenn er es nicht ändern kann. Seltsamer Weise habe ich für mich beschlossen trotzdem daran zu glauben, dass dieser Gott edistiert und mich liebt.
Richtig verärgert werde ich über das blöde gelabere von Hiobs Freunden. reicht es nicht schon,dass es hiob schlecht geht? Müssen diese vollidioten dann auch noch mit Schuldzuweisungen daher kommen.?

Ich möchte mich gerne über dieses Thema unterhalten, weil ich hoffe, dass irgend jemand zu der Geschichte eine bessere Idee hat als Gott ist entweder nicht allmächtig oder nicht gut.

Persönlich wichtig ist mir diese Geschichte weil ich hoffe daraus gelernt zu haben das leid meiner Mitmenschen nicht durch blöde Ratschläge zu vergrößern.

Boris

Re: Gott und das leid

#4 Beitrag von Boris » 13.04.2017, 13:02

Dafür braucht es sicher einige Erkenntnisse.
Ob diese Hiobgeschichte eigentlich genau so stattgefunden hat?

Fragt Boris

Comment

Re: Gott und das leid

#5 Beitrag von Comment » 13.04.2017, 13:19

Es mag ja einen Menschen mit Namen Hiob gegeben haben. Wie auch immer, die Geschichte von einem Hiob ist Dichtung, sie gibt das Gottesbild ihres Autors wieder, wahrscheinlich auch das seines glaubensmäßigen Umfelds. Damit will ich sagen, dass man sich von dem Gedanken lösen sollte, es sei Gott selbst, der den Menschen durch eine solche Abhandlung etwas von sich, von seinem Denken vermitteln wolle.

Ich sehe die Dinge so: Gott hat die Schöpfung mit all ihren aus menschlicher Sicht schönen wie unschönen Seiten gemacht. Er hat wohl das, was Menschen und Nutzer dieser Schöpfung als Leid, Schmerz uä empfinden, aus Gründen heraus mit hineingegeben, die wir nicht zu verstehen vermögen. Es bleibt den gläubigen Menschen allein die auf die Zukunft gerichtete Hoffnung, einstens in Gottes Reich in Gottes Liebe geborgen zu sein - ohne all die Dinge, die heute als so ungöttlich empfunden werden ...

Com.

glasperle

Re: Gott und das leid

#6 Beitrag von glasperle » 13.04.2017, 16:21

Auf den Gedanken bei hiob könne es sich um eine historische Person handeln, wäre ich nie gekommen.bibelwissenschaftler meinen diese Erzählung ( weisheitsgeschichtevsei zwischen 700 und 200 v. Chr. entstanden. Revolutionär in einem Umfeld, das sich sicher war, leid sei ein Zeichen dass ein Mensch nicht gottgefällig lebt. Das zeigt uns ja das Gerede der 3 Freunde. Nun will der Autor sagen " nein, nein nicht jeder ist seines Glückes Schmied. Verdächtigt nicht jeden leidenden und fügt dem leid nicht auch noch diesen psychoterror hinzu. " das war zur zeit derb Entstehung des Buches hiob sicher eine ungewöhnliche Idee.
Hiob stellt seine Erfahrung ( sein gutes Gewissen) der damaligen lehrtradition gegenüber. Woraufhin die Freunde immer ekelhafter und gemeiner werden.
Trotzdem wirft das Buch Hiob für mich mehr fragen auf als es beantwortet.

pathfinder

Re: Gott und das leid

#7 Beitrag von pathfinder » 13.04.2017, 22:20

Meiner Meinung nach ist das Leben und das Universum erst mal ohne Mitgefühl.
Es gibt grundlegende Abläufe, in denen das eine mehr wird aufgrund seiner Stärke gegenüber dem anderen.

Fressen und Gefressen werden.

Ich denke aus diesem Erkennen kam auch das
"Auge um Auge, Zahn um Zahn"
"Gott ist ein mitleidloser gestrenger Richter"

Das Universum belohnt nicht, wenn ich ein guter Mensch bin.
Das ist auch Grundlage einer kapitalistischen, neoliberalistischen Weltsicht.

"Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht"

Wenn man das Opfer solcher Abläufe ist, dann empfindet man persönliches Leid.
Ein Mensch kann Leid für einen anderen erzeugen.
Das Umfeld kann Leid erzeugen.
Unfälle, Krankheiten, angeborene Veranlagungen usw. können Leid erzeugen.

So ist die Welt.
Leid gehört zum Leben.

Im Leid ist oft kein Sinn zu erkennen.

Trotzdem kann es helfen, in dem Leid Sinn zu suchen.
Und vielleicht ist es der, daß wir Gottes Wege nicht verstehen können.
Daß wir Demut vor Gott erleben und uns nicht für zu groß halten.
Daß wir versuchen aus dem Leid zu lernen.
Daß wir unser Leben als etwas vorübergehendes verstehen können.

Ich kann nicht erklären, warum Gott als Ursprung der Liebe ein Universum geschaffen hat, in dem so viel Leid herrscht.

Es gibt kein Patentrezept, um das eigene Leid zu vermeiden.
Auch wenn man sich in den Glauben flüchtet, wird man nicht von Leid verschont.
Glauben ist keine Versicherung gegen Leid.

Aber man kann (manchmal) erkennen, was das Leid lindert.
Manchmal hat man die Möglichkeit Leid zu vermindern.
Bei sich.
Bei anderen.

Ich denke, daß der Gedanke des Mitgefühls und der Liebe in manchen Religionen und Weltanschauungen (Christentum, Buddhismus) dadurch seinen Platz gefunden hat.
Meiner Meinung nach ist die Möglichkeit in uns Menschen (auch anderen Wesen?) vorhanden, nicht nur an sich zu denken sonden auch dem Gedanken Raum zu geben, daß es auch anderen gut gehen sollte. Und was man selbst dafür tun kann.

Das ist für mich ein guter, ein Göttlicher Gedanke.

Denn es ist die einzige Kraft, die mich selbst und (ein bisschen) mein Umfeld zu einem besseren Ort machen kann.
Ich denke manchmal, die Aufgabe im Glauben (im Leben?) könnte sein, das Leben und das Leid besser zu verstehen, um an sich selbst zu arbeiten um immer wieder ein kleines bisschen in diesem Geist zu wachsen.

Durch Leid kann man Verständnis für sich selbst und andere entwickeln.
Da ist das Positive, das ich dem Leid abgewinnen kann.

Trotzdem ist an sich für mich Leid nichts erstrebenswertes und manche Theologien, die das Leiden verherrlichen machen für mich gar keinen Sinn.

Ich habe große Probleme mit dem verbreiteten Christlichen Denken, daß Jesus von Gott, seinem liebenden Vater am Kreuz sündlos als Opferlamm geopfert wurde um Gott mit sich selbst (!) und der Menschheit zu versöhnen.

Was für ein Gottesbild?!?!
Das hat für mich nichts mit einem liebenden Vatergott zu tun.
Für mich ist dieses Bild das Ergebnis eines heidnischen Opferkultes.
Für mich wurde es jahrtausendelang benutzt, um Gläubige in Unterordnung (die als Demut vermittelt wurde) und Duldsamkeit zu drängen.

Für mich ist das eine Lehre, die über Jesus erzählt wurde.
Und nicht von ihm selbst.
Ich denke nicht, daß Jesus das Leiden verherrlicht hat sondern daß er versucht hat Leid zu lindern.

Meiner Meinung nach war Jesus so sehr von der Lehre der Liebe überzeugt, daß er dafür sogar den Tod in Kauf genommen hat.
Denn er wusste, daß er mit seiner Lehre im Widerspruch zum religiösen Establishment steht.

Nach meinem Verständnis hat Jesus das Leiden auf sich genommen weil er vielleicht sonst eine Flucht als Verrat an der Lehre der Liebe empfunden hätte, die er gelehrt hat.
Er hat sogar sein Leben gegeben, um in der Lehre der Liebe zu bleiben.

Und das ist das was dieses Geschehen für mich wertvoll macht:
Sogar Jesus hat am Kreuz das Gefühl gehabt, daß Gott ihn verlassen hat!
Für mich macht das sein Leiden nachvollziehbar.
Er war nicht erhaben über das Leid.
Er hat gelitten wie wir alle.


Heute abend kam eine Wiederholung von "scobel - die Kraft des Guten" in der meiner Meinung nach auch ein paar gute Gedanken enthalten waren.
Anschaubar in der ZDF Mediathek;
https://www.zdf.de/wissen/scobel/scobel ... n-100.html

Mit dem "effektiven altruismus" aus dieser Sendung habe ich aber Probleme, weil er das Mitgefühl unter Umständen komplett von der Empathie trennt.
Für mich gehört beides zusammen, denn Mitgefühl ohne Empathie ist für mich kalt, emotionslos.
Und dadurch verliert man das Verständnis für das Leid...

Sehr interessant fand ich die Aussage, daß Empathie, also das Empfinden, was andere empfinden im Gehirn etwas völlig anderes ist als Mitgefühl.
Ich habe das so verstanden, daß Empathie quasi ein Sinn ist, mit dem wir erkennen, was in anderen vorgeht.

Aber allein dieses Empfinden macht uns nicht besser.
Es kann sogar bis hin zum Burn Out führen, wenn man sich zu sehr für die Gefühle öffnet, die aus dem Umfeld kommen (Beispiel Krankenschwester).
Aber Mitgefühl ist eine positive Kraft, die hilft mit dem Leiden umzugehen.
Und für Mitgefühl ist auch Abgrenzung notwendig.

Deshalb ist für mich der Satz:
"Liebe Gott über alles und Deinen Nächsten wie dich selbst"
so wertvoll.
Weil er beides berücksichtigt: sich selbst und den nächsten.

Und deshalb ist es so schwer, wenn man in einer Situation helfen muss oder möchte und keine Möglichkeit hat, auch sich selbst zu schützen.


Ich denke, daß der Gedanke der Liebe eine göttliche Kraft gegen das Leid ist.

Ich glaube, daß Gott der Ursprung der Liebe ist.
Und daß wir an uns arbeiten können, damit dieser Gedanke in uns wachsen kann.

Für mich ist das mehr als Altruismus.
Für mich ist das der heilige Geist, der Geist Gottes, dem wir Raum geben können.
Zu lernen, die Welt mit den Augen der Liebe zu sehen.
Die Kraft zu finden, sich immer mehr in der Liebe zu verhalten.

Ich bin davon noch sehr weit entfernt.
Oft ist es eigenes Leid, eigene Verletzungen, aber auch Unverständnis, Eigennutz, usw. was verhindert, daß ich mich "gut" verhalten kann.
Deshalb weiss ich, daß ich Gnade und Vergebung brauche.

Und ich glaube, daß Gott den liebt, der versucht dem Gedanken der Liebe in sich Raum zu geben.
Egal welchen Glauben er hat.
Auch wenn er gar keinen Glauben hat.

Boris

Re: Gott und das leid

#8 Beitrag von Boris » 15.04.2017, 14:44

glasperle hat geschrieben:Auf den Gedanken bei hiob könne es sich um eine historische Person handeln, wäre ich nie gekommen ...
Nun, liebe glasperle, hätte ich das auch geklärt.
Es hat natürlich einen Grund, warum ich diese Frage so naiv sie erscheinen mag, gestellt habe. Für mich war sie eher vorsichtig provokant.
Warum?
Egal ob Unterricht für Konfirmanden, Kinder, Jugendliche oder Gottesdienste:
Im Wesentlichen wurde nur zwischen Biblischen Gestalten und Gleichnissen/Beispielen unterschieden. Und Hiob war als Glaubensheld natürlich oft behandelt worden. Immer unter dem Blickwinkel der Treue zum Herrn.

Mein Bruder und ich fingen vor einiger Zeit aus eigenem Antrieb an, es für wahrscheinlich zu halten, dass das so nie stattgefunden hat. Ich habe jetzt mal rumtelefoniert. Ich bin nicht der Einzige, der es so wahrgenommen hat. Es wurde, zumindest im Bereich der jetzigen neuen Bundesländer, so rübergebracht.

Vielleicht passte es nicht ins Konzept, wenn man das Vorhandensein verschiedener Gottesbilder erwähnt hätte. Das würde ja irgendwie zum Nachdenken und Hinterfragen anregen.

Stelle ich diese Geschichte als Tatsache hin, werde ich völlig anders darüber sprechen, als wenn ich es als eine Art Bild betrachte.
Gleich bleibt m. E. natürlich das Unvermögen der Freunde Hiobs.

Nun kann man sie verurteilen, oder man kann sagen, dass Hiob das Pech hatte, keinen Freund zu haben, der die richtige Erkenntnis hatte, um ihm Kraft und Beistand für seinen Weg zu sein. Die Freunde haben sicherlich nach ihren Erkenntnissen richtig gehandelt. Sie wollten ihn vor offensichtlichem Schaden bewahren.
Wenn dieselbe Geschichte aus Sicht eines Freundes erzählt würde, würde sie vielleicht etwas anders erzählt werden. Eigentlich war nicht nur Hiob in Not. Ich denke, dass seine Freunde auch Not litten, wenn auch längst nicht so stark wie Hiob. Ich denke, die Freunde wollten Hiob helfen. Und so ganz Unrecht hatten sie m. E. nicht, denn Gott hat in diesem Bild Hiob tatsächlich elend im Stich gelassen. Ihn allein gelassen.

Dieses Bild kann m. E. zu vielen unterschiedlichen Ergebnissen/Ansichten führen, die alle nicht falsch sind.
Das ist vielleicht ein Vorteil von Bildern.
Schlecht nur, wenn Bilder als wahre Begebenheiten vermittelt werden.

LG Boris

glasperle

Re: Gott und das leid

#9 Beitrag von glasperle » 15.04.2017, 19:14

Für mich hat hiob immer zur prophetischen Literatur gehört. Eine Idee, im Kontext der Zeit. Der Schreiber hast sich gegen die zu seiner zeit üblichen Schuldzuweisungen gewehrt. Ein wahrhaft revolutionärer Gedanke damals. Zur Zeit serventstehung des Buches hiob war es nicht üblich leidenden zu helfen, im Gegenteil sie wurden als Sünder gemieden und sozial ausgegrenzt.
Ein bisserl haben wir das jetzt wieder ganz aktuell, wie pathfinder sagte " jeder istvseinesvglückes Schmied" " wie man sich bettet so liegt man"

glasperle

Re: Gott und das leid

#10 Beitrag von glasperle » 17.04.2017, 04:44

Ich hab mir "im Licht" des Ostersonntag überlegt, ob ich nicht im Zusammenhang mitbhiob vergesse auf Jesus zu schauen.

joh 9,1-14 erzählt eine „gute Botschaft“ inmitten einer dystopischen Welt. In der Geschichte aus dem Johannesevangelium geht es um die wundersame Heilung eines Blinden. Sie beginnt damit, dass Jesus einen Blinden sieht. Es ist kein zufälliges Sehen. Jesus stolpert nicht auf den Blinden zu, sondern geht ihm bewusst entgegen. Im Markusevangelium wird der Blinde von anderen Menschen zu Jesus gebracht. Es ist ein bewusster Blick von Jesus, ein gezieltes Hinsehen. Der Evangelist Johannes legt in dieser Perikope Jesus die Worte in den Mund: „Ich bin das Licht der Welt“. Dieses Licht richtet sich auf jene, die im „Dunkeln“ sind. Die Jesusgeschichten sind wie eine Antithese zur Aussage in der Dreigroschenoper: „Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht, und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Jesus macht also das, was Bert Brecht wollte. Verhältnisse werden zugunsten der Armen umgedreht. Systemveränderung beginnt von unten her. Heilung von Blindheit durch die „österlichen Augen“, die uns der Auferstandene schenkt. Auch die scheinbar Sehenden werden von ihrer Blindheit, die Not nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen, geheilt. Die „im Dunkeln“ rücken ins Licht. Licht dringt in die Tiefen des Meeres und öffnet den Blick für Menschen, die in den dunklen Tiefen ertrunken sind. Allein in diesem Jahr sind es bereits 500, die im Mittelmeer auf der Flucht gestorben sind. 5000 waren es im vergangenen Jahr. Der geheilte Blick richtet sich heute auf Menschen, die verhungern, weil wir durch unseren Konsum, unsere Terms of Trade und unsere klimaschädliche Lebensweise ihre Lebensgrundlagen zerstören. Mit jesuanischem Blick ist es, als würden die Lichter in den Schaufenstern und Einkaufszentren erlöschen, um Lichtenergie für eine andere Wirklichkeit zu haben: 20 Millionen Menschen hungern in den Ländern Afrikas und in den Kriegsgebieten des Mittleren Ostens. Afrika ist im Lichte des Evangeliums kein dunkler Kontinent mehr. Und weiters: Die Festungsmauern können nicht verhindern, dass das jesuanische Licht uns hinter die NATO-Stacheldrahtzäune und in die Anhaltelager in Griechenland, Serbien oder Kroatien schauen lässt. Mit dem Blick Jesu sehen wir die Millionen Kriegsflüchtlinge in der Türkei, in Jordanien und im Libanon oder riesige Zeltstädte am Rande der afrikanischen Kriegsgebiete. Wir wischen uns den Staub einer menschenfeindlichen Berichterstattung in den Boulevardblättern aus den Augen und können in die Nöte unserer Zeit blicken.
Die Not eines einzelnen Menschen wird in den Blick genommen. Der Blinde im Evangelium ist ein Mensch in einer prekären sozialen Lage. Behinderte galten im herrschenden Reinheitssystem der damaligen palästinensischen Gesellschaft als „unrein“. Zu ihrer körperlichen Not kam noch die kulturell-religiöse Ausgrenzung, die auch im Evangelium angesprochen wird. Man glaubte, dass sie selbst durch eine Sünde für ihr Schicksal verantwortlich seien. Irgendeine Sünde müsse es ja geben, dass sie so von Gott gestraft worden seien. Jesus weist zunächst diese Sünde-Schuld-Bestrafung-Konstruktion zurück. „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt“, sagt Jesus. Behinderung ist keine Folge irgendeiner Sünde. Die Theodizee-Frage, woher das Leid komme und ob Gott dafür verantwortlich gemacht werden könne, wird nicht mit der Vorstellung eines strafenden Gottes beantwortet. Dies würde so gar nicht zum liebend-barmherzigen Abba-Gott von Jesus passen. Das herrschende Reinheitssystem als ideologischer Überbau einer sozial-ökonomischen Deklassierung wird infrage gestellt. Damit freilich provoziert Jesus die herrschende religiöse wie politische Elite seiner Zeit, die Profiteure ebendieser Ordnung waren. Bewusst nähert sich Jesus all jenen Menschen, die damals ausgegrenzt waren. Den Blinden, den Taubstummen, den Lahmen, den Kranken. Sie waren auf Bettelei angewiesen, die nur außerhalb der Stadtmauern erlaubt war. Bettler wurden schon damals von der Mitte in den Rand gedrängt, so wie die Bettelverbote im Heute. Jesus rückt sie jedoch von der Peripherie ins Zentrum. So werden sie heil. So geschieht Heilung.

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