TRAURIGKEIT...?

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Maximin

TRAURIGKEIT...?

#1 Beitrag von Maximin » 04.11.2008, 05:54

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit (nach Inge Wuthe)

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlanglief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegesrand saß, blieb sie stehen und sah hinunter. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: "Wer bist du?" Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war. "Ach die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.

"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch. "Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet." "Ja aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?" "Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich..., ich bin traurig", sagte die graue Gestalt. Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt." Die Traurigkeit seufzte tief.

"Ach, weißt du", begann sie zögernd und auch verwundert darüber, dass ihr tatsächlich jemand zuhören wollte, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest."

Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: 'Papperlapapp, das Leben ist heiter.' und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: 'Gelobt sei, was hart macht.' und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: 'Man muss sich nur zusammenreißen.' und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: 'Nur Schwächlinge weinen.' und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet..."

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt."

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber..., aber – wer bist eigentlich du?" "Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd. "Ich bin die Hoffnung."

Quelle: http://www.zeitzuleben.de/artikel/gesch ... gkeit.html

KAPLAN

#2 Beitrag von KAPLAN » 04.11.2008, 11:36

"Mündig ist nicht, wer glaubt, Angst, Traurigkeit und Verzweiflung überwinden zu können, sondern wer sie zu durchleuchten vermag und daran wächst."

(Karlfried Graf Dürckheim)

Pritzebilsky

#3 Beitrag von Pritzebilsky » 04.11.2008, 19:55

Die Erzählung von der Traurigkeit ist schön.
Ich denke: Sage mir, worauf du hoffst und ich sage dir (vielleicht), was ich von dir halte.
Ich hoffe, wie die meisten von euch auch, auf ein ganz, ganz, anderes Leben...aber im Diesseits.

Gruß
Pritzebilsky

Tatyana

#4 Beitrag von Tatyana » 04.11.2008, 20:07

Auf was für ein Leben hoffst du?

Maximin

LEBEN JETZT...

#5 Beitrag von Maximin » 04.11.2008, 20:25

:) Ich lebe und ihr sollt auch leben, heute!
Micha grüßt :wink:

Pritzebilsky

#6 Beitrag von Pritzebilsky » 04.11.2008, 20:48

Auf was für ein Leben hoffst du?
Auf eines, in dem man lebendig sein kann. Das klingt banal, aber dazu gehört u.a.: Keine verknöcherten gesellschaftlichen Strukturen und Entfaltungsmöglichkeiten für alle.
Das klingt nun wieder sehr allgemein, aber genauere Ausführungen würden wohl den Rahmen dieses religiösen Forums sprengen. Wollte auch nur wieder mal ein bisschen von meinem Senf dazugeben, denn fromme Sprüchlein über die Hoffnung (die hier aber keiner bisher gemacht hat, nur immer im Kontext mit herumhängen) gehen wohl schnell von der Zunge, aber wichtig ist das konkrete Leben und die konkreten Lebenschancen. Und da sieht's zurzeit für viele nicht so hoffnungsfroh aus.

Liebe Grüße
Pritze

Tatyana

#7 Beitrag von Tatyana » 04.11.2008, 21:18

Lebendig sein bedeutet aber für jeden etwas anderes, weil jeder andere Ziele und Wünsche und Vorlieben hat.

Pritzebilsky

#8 Beitrag von Pritzebilsky » 04.11.2008, 21:21

Ja, sehe ich auch so, aber warum soll nicht jeder nach seinem Gusto leben, wenn er den anderen damit nicht schadet? Setzt aber andere Zustände voraus, als die, unter denen wir zurzeit zu leben gezwungen sind.

Anne

#9 Beitrag von Anne » 05.11.2008, 09:21


Tatyana

#10 Beitrag von Tatyana » 05.11.2008, 09:26

Pritzebilsky hat geschrieben:Ja, sehe ich auch so, aber warum soll nicht jeder nach seinem Gusto leben, wenn er den anderen damit nicht schadet? Setzt aber andere Zustände voraus, als die, unter denen wir zurzeit zu leben gezwungen sind.
Zumindest viel mehr Platz auf dieser armen Welt...
Daß jeder so leben dürfen sollte, wie es ihm gefällt, wenn er dem anderen nicht schadet, heißt nämlich, daß alle wieder Beschränkungen unterworfen sind und Extreme sowieso wegfallen. Also alle gleich und weichgespült. Schlimmer als in jeder kirchlichen Idealvorstellung :wink:

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