Lüge-Sünde?

[tosamasi]

So sehe ich das auch, Dieter. Denn es ist nichts Böses getan, eine 'bittere 'Wahrheit' zu verschweigen. Und insofern hat man sich nicht schuldig gemacht.

Ich glaube nicht, daß mit dem Gebot: "Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten" gemeint ist, daß man ihn/sie mit brutaler Schonungslosigkeit brüskieren soll.

Hier wird eine Aktion vorausgesetzt, nämlich dass man wissentlich willentlich Falsches verbreitet. Ich glaube noch nichtmal, dass hiermit die profane Lüge gemeint ist, wenn ich z.B. sage, dass ich dies und das tat oder nicht, obwohl das nicht stimmt.

[tergram]

Alltagsbeispiel:

Oma konnte immer wunderbar backen. Aus Altersgründen haben ihre Fähigkeiten nachgelassen, was sie aber nicht bemerkt hat. Sie backt also mit großer Freude für die gesamte Familie Kuchen und verteilt ihn großzügig.

Die Wahrheitsvariante: Wir könnten ihr nun sagen, dass der Kuchen nicht mehr so wie früher... und dass sie es doch besser lassen sollte... Ergebnis: Oma wäre fassungslos, traurig und würde die Freude an dieser Tätigkeit verlieren. Wahrscheinlich würde sie sich sogar etwas schämen.

Die Lügenvariante: Oder wir danken ihr für ihre Mühe, sagen ihr, wie sehr wir uns gefreut haben und dass wir den Kuchen wieder mal ganz toll fanden. Ergebnis: Oma freut sich und fühlt sich bestätigt.

Wir haben uns untereinander für die Lügenvariante entschieden. Ohne den Hauch eines schlechten Gewissens.

Glaubt jemand ernsthaft, Gott würde uns diese Lüge als Sünde ankreiden???

[Lobo]

Max Frisch:...Wenn du glaubst etwas als Wahrheit erkannt zu haben, so halte es ihm hin wie ein Mantel in den er hineinschlüpfen kann. Schlage es ihm aber nicht wie ein Nasses Handtuch um die Ohren...

Besser gesagt, als getan. Ein Versuch so zu handeln, ist es in jedem Fall wohl immer wert.

Lobo

[Steppenwolf]

Wenn alle immer nur die Wahrheit sagen würden, dann wäre unsere Welt sehr brutal.

Quelle

[abendstern_]

tergram,

stell dir aber mal vor, deine Omi ist gar nicht so doof, sie merkt selbst, wie ihre Fähigkeiten im Laufe der Jahre nachgelassen haben, sie merkt, dass sie immer wieder Fehler beim Backen macht und dann improvisiert und das Ergebnis nicht immer vorteilhaft ist und sie merkt auch selbst, dass ihr Kuchen nicht mehr so schmeckt wie früher - und dann kriegt sie von dir gesagt, wie toll ihr Kuchen wieder geschmeckt hat. Ich würde da als Omi dann denken "Tergram ist doch eine alte Schleimerin"

Genau so die schwerkranke Frau. Sie weiß vermutlich selbst, wie sie aussieht. Ihr Komplimente über ihr Aussehen zu machen wäre doch glatter Hohn für sie. Wenn sie noch hofft, dann kann man ihr auch ohne Lüge über ihr Aussehen diese Hoffung stärken.

[Katze]

Liebe abendstern,

du hast damit nicht unrecht, wenn du schreibt, dass die schwerkranke Freundin vielleicht gewusst hat, wie es um sie bestellt war...

[tosamasi]

Katze schrieb:

Ihre Zurückhaltung mit der Wahrheit hat mir geholfen. Ist doch seltsam oder?

Hier wäre ich mit dem Begriff Wahrheit zurückhaltend. Es handelte sich um eine unangenehme Möglichkeit.
Man kann das Verschweigen aller Eventualitäten nicht als Lüge bezeichnen. Die Ärzte müssen jedes Risiko bedenken und dem Patienten vermitteln, um dem Patienten die Möglichkeit der Wahl zwischen Teufel und Beelzebub zu lassen. Sie entziehen sich damit auch einer evtl. Haftung. Würden sie sagen, es könne nichts passieren, wäre das eine Lüge.
Aber Mut zur (guten) Tat machen, gehört nicht zum Lügenkatalog.

[tergram]

tergram, stell dir aber mal vor, deine Omi ist gar nicht so doof, sie merkt selbst, wie ihre Fähigkeiten im Laufe der Jahre nachgelassen haben, ...

Irrtum! Unsere Oma ist nicht "doof", sondern hat aufgrund ihres hohen Alters ein paar sensorische Fähigkeiten eingebüßt. Sie erzählt uns immer wieder, dass sie dem lieben Gott sehr dankbar ist, dass sie noch so viel selbst machen kann - z.B. leckeren Kuchen backen. Wer sind wir, dass wir Oma diese Freude und Dankbarkeit nehmen könnten?

"Wahrheit" ist oft subjetiv und manchmal schwer verträglich. Sie sollte daher auf den Einzelfall bezogen und wohldosiert angewandt werden.

Dass generell und grundsätzlich die Wahrheit der Lüge vorzuziehen ist, ist ja gar nicht die Frage. Ich wehre mich aber gegen die eindimensionale Betrachtung, dass die Wahrheit und nichts als die Wahrheit immer und in jedem Fall in voller Breite auszusprechen ist und dass es sich dabei um ein göttliches Gebot handeln soll.

Oma's Kuchen hin oder her.

[abendstern_]

tergram, ich wollte deine Oma keinesfalls als "doof"bezeichnen, ich wollte her darauf hinweisen, dass wir als Menschen unsere nachlassenden Fähigkeiten durchaus auch selbst bemerken. Und da wirkt ein falsches Kompliment, das weiß ich aus eigener Erfahrung, eher so, dass man den Komplimentemacher als Schleimer ansieht und ihn meidet. Wenn schon Komplimente, dann "wahre" - aber das wird mit zunehmendem Alter ja immer schwieriger

Mit Wahrheiten sollte man dann vorsichtig umgehen, wenn sie einen Menschen verletzten könnten.

Wenn eine Freundin fragt, wie ihr das neue Kleid stehe und man findet, dass sie darin schrecklich aussieht, muss man ihr ja das nicht so sagen. Man kann auch sagen, ich finde dein blaues Kleid steht dir viel besser.


Meine Omi steute mal auf ihren Pflaumenkuchen statt Mandelsplitter Kernlestee (Hagebuttenkörner). Es war ihr furchtbar peinlich, als wir es beim Essen feststellten. Wir haben noch lange darüber gelacht und sie konnte auch mitlachen. Noch heute, bald 10 Jahre nach ihrem Tod, sagt oft einer, wenn es Pflaumenkuchen gibt "weißt du noch, damals, als Oma Kernlestee auf den Kuchen gestreut hat... "

[tergram]

abendstern_, wir sind uns einig. Besonders, was Kuchen von Oma's betrifft.